Eurythmie – die Kunst des Neuen Menschen
Was kennzeichnet den wirklich modernen Menschen? Denjenigen, der aus der individuellen Verbindung mit dem Zeitgeist lebt und so das verwirklicht, was nur er aus seinem tiefsten Innern heraus auf der Erde verwirklichen kann?
Er ist innerlich aus dem Traumdasein aufgewacht, hat sich in die Lage versetzt die Matrix nicht nur zu durchschauen, sondern aus ihr herauszutreten. Er hat begonnen aus dem Geist heraus schöpferisch zu werden. Wie komme ich dahin? Wie kann ich das verwirklichen?
Die Philosophie der Freiheit ist eine Medizin, die, wenn sie regelmässig eingenommen wird, das Innenleben klärt, in Rudolf Steiners Worten: eine Katharsis herbeiführen kann (1). Sie ist ein Wegweiser aus der inneren Gefangenschaft heraus. Er hat mit diesem Buch sozusagen eine Bresche in den inneren Urwald geschlagen. Nun kann jeder, der aufwachen will, diesen Weg gehen mit seinen eigenen Füssen: den Weg aus der Matrix, aus der Kollektivhypnose, aus der Fremdbestimmung heraus.
In einem Land zu leben, wo das Orgiginal in seiner lebendigen, künstlerischen Sprache zugänglich ist, ist ein grosses Privileg! Auch wenn das Buch vor hundert Jahren aus einem anderen Sprachgebrauch heraus geschrieben wurde, ist es doch ein Kunstwerk und kann in diesem Sinne genossen werden, ähnlich einem Theaterstück von Shakespeare im Original.
Viel grösser ist die Herausforderung in einem Land zu arbeiten, wo (noch) keine lebendige Übersetzung vorhanden ist, nur Werke, die das Was übersetzt haben und das Wichtigste, das Wie, ausser acht gelassen haben. Weil sie es (noch) nicht erkannt haben. Denn das Was befindet sich auf der physischen Ebene, das Wie auf der ätherischen…
Mit jedem Menschen, der die Irrtümer unserer Zeit innerlich klären und überwinden kann, mit jedem, der aus eigener Kraft und Einsicht an die Stelle der Lüge in seinem Inneren die Wahrheit setzen kann, wird die ganze Menscheit geheilt. Wie sollte sie auch anders geheilt werden können als durch die frei-willige Selbstheilung und Selbstverwandlung jedes einzelnen Menschen?
An Geistesoffenbarung hingegeben
Gewinne ich des Weltenwesens Licht.
Gedankenkraft, sie wächst
Sich klärend mir mich selbst zu geben,
Und weckend löst sich mir
Aus Denkermacht das Selbstgefühl.
( 39. Wochenspruch)
Dies zu erleben gibt Lebens-Vertrauens-Kraft. Und auf ganz natürliche Weise entsteht Liebe, Interesse an allen Mitwesen unseres Sonnensystems. Der zweite Teil des Buches ist also die konsequente Folge des ersten, insofern ich es nicht einfach nur lese sondern “aufesse”.
Auch das Buch Theosophie kann wie eine Medizin regelmässig eingenommen werden (2). Der Schlüssel zum Erwachen des dort Dargestellten im Herzen des aufmerksam Lesenden und bewusst Wiedergebenden (in Wort und Schrift) ist der Rhythmus (Aktivität und Pause): der regelmässige Umgang mit diesem Schulungsbuch (3).
Es ist ja auch, wie die Philosophie der Freiheit aus dem Herzdenken heraus, das heisst in Wellen geschrieben. Der regelmässige Umgang mit dem ätherischen Denken des Buches, weckt auch das ätherische Denken in mir auf. Und es ist dieses: das lebendige Denken, das Christus-Denken, welches die Kunst der Eurythmie aus sich selbst gebiert (denn es ist Herzdenken) und auch verständlich macht. Es ist die künstlerische, schöpferische Denkebene, die dieser Kunst des Ätherischen entspricht.
Der Neue Mensch wird aus dem Geiste heraus geboren. Das ist ein aktiver, bewusster Vorgang. Er fällt nicht einfach vom Himmel. Die Kunst der Eurythmie ist Ausdrucksmittel und Offenbarung des Neuen Menschen, die erste nach-christliche Kunst. Der alte, aus seinem Wesen heraus noch ungeborene Mensch wird weiterhin tanzen (4). Er bleibt in der vor-christlichen Zeit stehen, in der vierten nach-atlantischen Epoche, in der Zeit der Verstandesseele.
Das Gesetz der Erdenentwicklung kann von uns nicht geändert und auch nicht ignoriert werden: erst kommt die Auferstehung im Denken (Ich denke die Rede…) und als Konsequenz davon ein neues Handeln, ein neues Bewegen, eine neue Kunst.
Seit einigen Jahren (21 ungefähr) praktiziere ich regelmässig und immer wieder die Beziehung zu diesen beiden Büchern. Sie sind lebendige Gedankenwesen. Für alle die, die aufwachen wollen ist das ein möglicher, wirksamer Weg. Was da an innerer Kraft und Lebensfreude zugänglich wird, sobald dem Irrtum bewusst ins Auge gesehen und an seine Stelle aus eigener Einsicht die Wahrheit gesetzt wird, ist unbeschreiblich.
(Die intellektuelle Unkultur der letzten hundert Jahre hat es soweit gebracht, dass heute ein “aufgeklärter” Mensch natürlich der Meinung ist, dass es Wahrheit gar nicht gibt. Eine Doktorarbeit mit dem Titel: Wahrheit und Wissenschaft wäre heute in der akademischen Welt undenkbar. Und das ist ja auch stimmig so, denn die Wahrheit kann nur innerlich, selbständig erlebt werden, sonst ist sie für den betreffenden Menschen tatsächlich nicht da...)
Den Umgang mit diesen beiden Büchern erlebe ich wie der Pianist seine täglichen Fingerübungen. Sie sind die Vorraussetzung zum adäquaten Bewältigen einer Sonate. Die “Sonate” kann, in diesem Fall, zum Beispiel die Allgemeine Menschenkunde sein. Dieser Kurs ist einfach nicht zu verstehen aus dem intellektuellen Denken heraus – Rudolf Steiner nennt es: jenes gottverlassene Denken (5) – so wie ein Pianist mit steifen Fingern keine Sonate spielen kann. So erlebe ich das auch in Bezug zum Landwirtschaftlichen Kurs oder zu anderen Kursen, welche die praktische Anwendung der Geisteswissenschaft im Leben darstellen.
Und welche Eurythmie entsteht wohl, wenn der Eurythmist auch innerlich eurythmisiert indem er sich auf den Weg begibt das lebendige Denken in sich selbst zu erwecken?
Heute schmeckt meine Beziehung zu dem Buch Theosophie wie der Genuss eines mousse au chocolat. Am Anfang dieser Beziehung (ich war damals 18) war der innere Widerstand freilich gross. Die Anwesenheit des Lügenwesens in der eigenen Seele (welches bei mir in der Staatsschule umfangreich gefüttert worden war) macht es keinem von uns leicht… Die ersten Begegnungen mit der Wahrheit schmeckten daher eher wie Wermut. Denn dieses Den-Ätherleib-Ergreifen und Selbständig-Denken-Lernen tut am Anfang weh. Das innerlich Auf-die-Beine-Kommen ist ein Kraftakt. Rudolf Steiner sagt, diese innere Aktivität des Denkens entspricht, in Bezug auf den Energieverbrauch, dem Holzhacken. Doch mit der Zeit wirkte die Medizin, die inneren “Denkmuskeln” wurden immer stärker und es entstand gesunder Genuss: die Frucht des Willens zur Wahrheit.
Was wird da für eine Eurythmie entstehen, wenn wir Eurythmisten beginnen werden, in grösserer Zahl, mit dem Herzen zu denken! Manchmal ist schon hie und da ein Lichtblick zu sehen. Zwischen Grau-Schleier (=konservierter) Eurythmie und Rot-Schleier (=persönlicher) Eurythmie: Sonnen (=individuelle) Eurythmie. Das I.CH. wird sichtbar.
Wenn dann solch innerlich geschulte Menschen zusammenkommen, um gemeinsam im Kreis die individuelle Schulung zu intensivieren, zum Beispiel der Komposition der 4 Leiber folgend, einen geisteswissenschaftlich komponierten Inhalt (zum Beispiel jedes Mal einen weiteren Absatz der Philosophie der Freiheit) zu sich nehmen, im Sinne von:
- lesen (physischer Leib)
- gemeinsam das Gelesene wiedergeben (Ätherleib)
- Fragen und Antworten bewegen (Astralleib) und schliesslich
- gemeinsam einen Satz bilden, der die Essenz des Aufgenommenen wiedergibt (Ich),
dann wird es für einen Engel möglich durch so einen Kreis auf der Erde zu wirken.
Am 7. Juni 1909 sprach Rudolf Steiner in Köln darüber, dass dies nun in unseren Händen liegt, ob wir Menschen bereit sind den Engeln die Arbeit hier auf der Erde zu ermöglichen. 1923, als er über anthroposophische Gemeinschaftsbildung sprach, nannte er diese Art der Zusammenarbeit den umgekehrten Kultus (6).
Soweit ich es verstanden habe, ist das für uns eine Frage des Überlebens. Es hängt jetzt (seit 1413) von unserer Initiative ab, ob es demnächst noch möglich sein wird menschenwürdig auf der Erde zu leben. Denn die Widersachermächte haben nun, vor allem durch die im allgemeinen undurchschaute, süchtig machende binäre Technologie, ein grosses Wirkungsfeld, weltweit, 24 Stunden lang…
Heute bin ich davon überzeugt, dass es nicht möglich gewesen wäre das erste Goetheanum durch Brandstiftung physisch zu zerstören, wenn es damals genügend Menschen gegeben hätte, die gerne, aus eigenem Antrieb heraus, den umgekehrten Kultus praktiziert hätten, anstatt einfach nur Anthroposphie zu konsumieren (7).
Nun stelle ich mir vor, wie sich wohl eine Eurythmieprobe oder eine Übstunde in der Ausbildung anfühlen würde, wenn sie aus so einer Stimmung heraus durchgeführt würde. So eine gedankliche Einstimmung muss nicht länger als 20 – 25 Minuten dauern. (Je länger eine Gruppe dies regelmässig praktiziert, desto disziplinierter werden die Teilnehmer). Und was, laut Rudolf Steiner, als Antwort aus höheren Welten dieser Aktivität entgegenkommt ist Einigkeit, gegenseitiges Verständnis (8). Natürlich! Denn die persönliche Meinung wurde mit dem Mantel in der Garderobe abgegeben.
Und bin ich in den Geistestiefen
Erfüllt in meinen Seelengründen
Aus Herzens Liebewelten
Der Eigenheiten leerer Wahn
Sich mit des Weltenwortes Feuerkraft.
(40. Wochenspruch)
Durch das innere Sich Aufrichten kann gemeinsam die objektive Realität erreicht werden, da wo Wahrheit, Schönheit und Güte zu Hause sind (9), die Ebene des Friedens aus Einsicht, die Ebene der wirklich gemeinsamen, schöpferischen Arbeit. Da kann dann das Individuelle jedes Teilnehmers zum Zug kommen und das gemeinsame Werk durch seine besondere, einzigartige Farbe bereichern!
Als ehemalige Orchestermusikerin leuchtet mir das völlig ein. Kein gutes Orchester würde je auf die Idee kommen eine Probe zu beginnen, ohne dass jeder sein Instrument zuerst auf den gemeinsamen Ton A einstimmt. Völlig undenkbar. Und da wir in der Eurythmie selber das Instrument sind, das heisst unser Denken, Fühlen und Wollen vom Ich aus bewegt werden soll, kann es doch gar nicht anders sein, als dass die innere Schulung mit dem Denken beginnt! Alles, was danach als Bewegung sichtbar wird, ist dann ein Sichtbarwerden dieses neuen, lebendigen Denkens, welches ja von Willen durchpulst ist und in Wellen fühlend strömt.
Wenn wir das gemeinsam tun, erschaffen wir auf diese Weise, mit vereinten Kräften, eine neue Welt. Jeder an der Stelle, wo er durch sein Karma hingestellt worden ist, mit den Menschen zu denen er gehört.
Der Seele Schaffensmacht
Sie strebet aus dem Herzensgrunde,
Im Menschenleben Götterkräfte
Zu rechtem Wirken zu entflammen,
Sich selber zu gestalten
In Menschenliebe und im Menschenwerke.
(41. Wochenspruch)
(1) Rudolf Steiner, 31. Mai 1908 in Hamburg:
Der, der sie (die Katharsis) nicht herbeigeführt hat, wenn er dieses Buch durchgenommen hat, braucht nicht zu denken, dass es nicht richtig ist, was ich sage, sondern eher, dass er es nicht richtig oder nicht energisch und gründlich genug durchgearbeitet hat.
(2) Theosophie, Vorrede zur dritten Auflage:
In verschiedener Art streben diese beiden Bücher nach dem gleichen Ziele. Zum Verständnis des einen ist das andere durchaus nicht notwendig, wenn auch für manchen gewiss förderlich.
(3) “Repetition keeps you green. From repetition comes creation.” Al Pacino.
(4) Das kann auch vom ästhetischen her interessant und mitunter sehr schön sein, eine Erinnerung an die Vergangenheit in neuer Einkleidung.
(5) Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs, Stuttgart, 10. Oktober 1922:
In dem, was ich anthroposophische Geisteswissenschaft nenne, schon in meinem Vorwort zu der “Philosophie der Freiheit”, tritt Ihnen etwas entgegen, was Sie nicht erfassen können, wenn Sie sich nur jenem passiven Denken hingeben, das man heute besonders liebt, jenem gottverlassenen Denken, dem sich die meisten Menschen hingeben, und das schon im vorigen Leben gottverlassen war; sondern Sie können es nur erfassen, wenn Sie in Freiheit den inneren Impuls entwickeln, Aktivität in das Denken hineinzubringen. Sie kommen eben mit demjenigen, was in der Geisteswissenschaft lebt, nicht mit, wenn nicht jener Funke, jener Blitz hineinschlägt, durch den das Denken voller Aktivität wird. Durch diese Aktivität müssen wir uns auch wieder die Göttlichkeit des Denkens erobern.
(6) Rudolf Steiner, Delegiertenversammlung, Stuttgart, 27. Februar 1923:
Ist es denn Wahrheit, wenn wir von der übersinnlichen Welt reden und nicht imstande sind, uns aufzuschwingen zum Erfassen solcher realen Geistigkeit, solches umgekehrten Kultus? Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee des Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können, auch für uns selbst theoretisch wiedergeben können, sondern wenn wir glauben können – aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens –, dass Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben. Sie können nicht durch äussere Einrichtungen die anthroposophische Gemeinschaftsbildung hervorrufen. Sie müssen Sie hervorrufen aus den tiefsten Quellen des menschlichen Bewusstseins selbst.
(7) Rudolf Steiner, Stuttgart, 30. Januar 1923:
So sollen wir auf dem Wege der Anthropopsphie ausgehen lernen von der Erkenntnis, uns erheben zur Kunst und endigen in religiöser Innigkeit. Dass man das heute nicht will, das schafft der Anthroposophie ihre Gegner.
(8) Rudolf Steiner, Delegiertenversammlung, 28. Februar 1923:
Es gibt zweierlei Arten, sich zum Beispiel mit meinem Buch “Theosophie” zu beschäftigen. … Und wenn man so von höheren Welten träumt, dann kommt aus den Impulsen der höheren Welten heraus nicht die grösste Einigkeit unter den Menschen, das grösstmögliche Tolerieren als eine Errungenschaft, sondern statt der Einigkeit, die gerade das Geschenk des Studiums der höheren Welten sein kann, immer weiter wirkender Streit und Zank.
(9) Siehe erstes Kapitel im Buch Theosophie, 1904.
Der besseren Schreibweise wegen habe ich das generische Maskulin verwendet, bei dem wir Frauen natürlich auch gemeint sind.
Margrethe Skou Larsen, Johanni 2017